M 1.
Mittwoch, dm 4. Januar.
1865 .
Dieses Blatt erscheint wöchentlich zweimal, Mittwochs und Sonnabends. Preis xro Quartal 7^2 Groschen. Inserate finden Dienstag resp. Freitag bis 4 Uhr Nachmittags Aufnahme. - - Die gespaltene Petitzeile kostet i Groschen.
Das alte Jahr vergangen ist.
Das alte Jahr vergangen ist,
Das neue Jahr beginnt.
Wir danken Gott zu dieser'Frist,
Wohl uns, daß wir noch sind!
Wir sehn aufs alte Jahr zurück,
Und haben neuen Mnth:
Ein neues Jahr, ein neues Glück!
Die Zeit ist immer gut.
Ja, keine Zeit war jemals schlecht;
In jeder lebet fort
Gefühl für Wahrheit, Ehr' und Recht Und für ein freies Wort.
Hinweg mit allem Weh und Ach!
Hinweg mit allem Leid;
Wir selbst sind Glück und Ungemach,
Wir selber sind die Zeit.
Und machen wir uns froh und gut,
Ist froh und gut die Zeit,
Und giebt uns Kraft und frohen Mnth Bei jedem neuen Leid.
Und was einmal die Zeit gebracht,
Das nimmt sie wieder hin —
Drum haben wir bei Tag nnd Nacht Auch immer frohen Sinn.
Und weil die Zeit nnr vorwärts will,
So schreiten vorwärts wir;
Die Zeit gebeut, nie stehn wir still,
Wir schreiten fort mit ihr.
Ein neues Jahr, cm neues Glück!
Wir ziehen froh hinein,
Denn vorwärts! vorwärts! nie zurück!
Soll unsere Losung sein.
Hvffmann v. Fallersleben.
Die unsichtbare GeisterMusi?.
Ein Graudenzer Eerlebniß von Ludwig Wales rode.
Das hätte ich mir niemals träumen lassen, daß ich noch einmal eine Rolle in den nachgelassenen Werken Friedrich's des Großen spielen würde, und auch der große Friedrich hat wohl schwerlich je eine Ahnung davon gehabt. Aber das Leben ist oft phantastischer als unsere Träume oder, wie ein Dichter sagen könnte, von allen unseren Träumen ist das Leben selbst dev kühnste.
Das kommt dir, lieber Leser, wie ein Räthselwort vor, wie eine Mystifikation; und doch spreche ich dir „bescheidene Wahrheit" >—> nur mußt du das nachgelassene Werk Friedrich's des Großen, von dem hier die Rede ist, nicht beim Antiquar suchen und nicht in der Leihbibliothek — am besten wär's, du machtest gar nicht dessen nähere Bekanntschaft. Es existirt in einem einzigen gar solid wie für die Ewigkeit gebundenen Exemplare. Mit einem Wort — es ist die nach den eigenhändigen Friedrich's II. vom Jahre 1770—76 angelegte Festung Grau- deüz am rechten Weichseluser, eine jener wenigen preußischen Festungen, die in den Jahren 1808 und 1807 ihre jungfräuliche Ehre gegen die galanten Bewerbungen der französischen Armee zu behaupten gewußt. —
Wegen welchen Verbrechens ich Insasse jener Festung wurde, darüber ein andermal ausführlicher. Nnr, damit du nicht gar zu schlimmes von mir denkst, daß ist etwa wegen Anfertigung falscher Kassenscheine, wegen Pferdediebstahls, Brandstiftung, Raubmordes und dergl.
verurtheilt worden, erzähle ich hier, daß lediglich mein Stil, der in einem unbewachten Augenblick mit dem empfindlichsten Paragraphen des Thl. II. Tit. 20. des Allgemeinen Preußischen Landrechts in Konflikt gcrathen war, die ganze Geschichte eingebrockb; — und da, nach Bussen, nun einmal der Stil der Mensch selber ist, so mußte ich für das büßen, was jener verschuldet hatte.
Es war am 16. November 1845, als ich von Königsberg, unter keiner anderen Eskorte als der meines dem dortigen Oberlandsgerichte gegebenen Ehrenwortes, zur Abbüßung einer einjährigen Haft mit der Schnellpost nach der genannten im entferntesten Winkel des polnischen Westpreußen gelegenen Festung abreiste.
Damals hatten noch keine bis zur Fadenscheinigkeit abgegriffene „Errungenschaften" den Volksgeist zur mißmuthigen Passivität herab- gestimmt. Es ging durch die politische Bewegung jener Zeit ein unverkennbarer Zug jugendlich idealer Sehnsucht nach weltbürgerlicher Freiheit, ein schwungvolles, man könnte sagen — Schiller'sches Pathos. Man schwärmte für das „freie Wort," weil es noch Censur gab nnd Censoren. Die Regierungen wagten nicht, wie heutzutage, die öffentliche Meinung demoralisiren zu wollen; sie mußten sie bekämpfen, und gerade in diesem Kampfe erstarkte die öffentliche Meinung zu einer gefürchteten Macht. — Demonstrationen waren an der Tagesordnung; sie waren eben die Sprache des Tages. — Die immer mehr wachsende Volkspartei ergriff mit Enthusiasmus jede Gelegenheit, so unumwunden, so emphatisch als möglich ihre Gesinnung an den Tag zu legen und jeder außergewöhnlichen Maßregel des „Volksstaates" ein glückliches Paroli zu bieten.
Welch' eine willkommene Gelegenheit zu Demonstrationen bot damals, wo Tendenz-Prozesse nnd politische Berurtheilungen noch zu den Seltenheiten gehörten, ein für das „freie Wort" zur Festungsstrafe , vernr- thcilter Schriftsteller! Und noch dazu in der Provinz Preußen! — Ich hätte auf meiner Fcstungsfahrt förmlich eine Märtyrerglorie, nach Art derer, wie sie die Heiligen auf byzantinischen und altdeutschen Altar- blättern tragen, als Neisemützen aufsetzcn können. In der That wurden mir auf der Reise vom Königsbergcr Posthause bis in meine Graudenzer Kasematte öffentliche Huldigungen zu Theil, die ich heute noch, selbst in der Erinnerung, crröthend von mir ablehnen müßte, wenn ich auch nur zu ahnen berechtigt wäre, daß dieselben meiner Person gegolten. Aber es war eben die Zeit, welche Menschen und Zufälle shmbolisirte. -— So gelangte ich erst am 19. November über die Bromberger Chaussee nach der Station Gruppe, von wo eine Extrapost mich an die Weichsel brachte, an deren jenseitigem Ufer mein einjähriger Kerker lag. Es war spät geworden und dazu stürmisch und kalt. Ich hörte den gewaltigen Strom dicht zu meinen Füßen rauschen, aber ich sah ihn nicht. Eine mondlose Nacht und die undurchdringlichen Spätherbstnebel jener Gegend hatten ihn in ihren dichten Schleier gehült. Man konnte wirklich die Finsterniß mit Händen greifen. Die polnisch redenden Fährleute, bei denen der Postillon mir als Dolmetscher diente, stellten mürrisch ihre Verpflichtung iu Abrede, mich in so stockdunkler Nacht über das wilde vom Sturm gepeitschte Gewässer zu rudern. Doch in der erhöhten Stimmung, welche meine Reise- Erlebnisse und die nahe, bevorstehende Einkerkerung in mir erweckt hatten, übte die Romantik einer solchen Fahrt einen zu unwiderstehlichen Reiz auf mich aus, als daß ich nicht durch ein reichliches Trinkgeld die Bedenklichkeit der Schiffer zu überwinden mich verstanden hätte. In dieser Gegend hat das Trinkgeld noch seine ungeheuchclte primitive Bedeutung — es wird ehrlich in Schnaps übersetzt und vertrunken. — Die Scenerie, wenn man einen Schauplatz so nennen darf, den man nicht sieht, sondern aus den Eindrücken deS Gehörs und des Gefühls ahnt, hatte etwas entschieden Sarmatisches — Weichsel, Nacht, Sturm, polnisch fluchende Schiffer, eisig kalter Nebelhauch, klatschende Ruder, knarrender Kahn — es war mir als durchführe ich, dicht in meinen Mantel gehüllt, ein Fragment aus einem polnischen Epos, in dem Taddäus Kosziusko der Held ist — und das mit den Worten endigt: „Uliiis koloruns!" — Solche Phantasten sind wir Schriftsteller!
Obwohl es säst 11 Uhr Nachts geworden war, als ich an der Stadt Graudenz landete, wurde ich dennoch von mir bisher unbekannt gewesenen Freunden erwartet und auf's herzlichste in Empfang genommen. Bei dampfender Bowle erfuhr ich hier, daß der Festungscom-
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